Die Empfindsamkeit hängt mit dem Ende des französischen Rationalismus nach dem Tode von Ludwig XIV. im Jahr 1715 zusammen. Sie wendet sich gegen eine strikt vernunftorientierte Lebensweise, wie sie bei der Disziplinierung und Zivilisierung der europäischen Gesellschaft in der Zeit des Absolutismus aufkam.
Das deutsche »Zeitalter der Aufklärung« begann erst, als das französische »Zeitalter der Vernunft« durch sozialkritische und emmnzipatorische Tendenzen ergänzt oder in Frage gestellt wurde.
Eines der wichtigsten inhaltlichen Merkmale der Empfindsamkeit ist die Gegenüberstellung von Gefühl und Verstand. Wenn Sie also Literatur aus der Zeit interpretieren, achten Sie darauf, welche Figuren ihre Handlungen und Aussagen aus dem Gefühl herleiten und welche aus dem Verstand.
Wichtig ist auch die Natur des Gefühls. Gute Gefühle entsprechen in der Empfindsamkeit der Nächstenliebe, nicht der Leidenschaft. Geschwisterliebe, Freundschaft, Naturliebe und Trauer sind typische Gefühle der Empfindsamkeit, während Raserei, Zorn, Begehren und Temperament nicht zu den Idealen gehören.
Das Gefühl wird in der Empfindsamkeit einerseits als Träger einer ethischen, auf Nächstenliebe basierenden Lebensweise verstanden, andererseits bietet es dem Individuum, das in der empfindsamen Literatur meistens aus dem Bürgertum stammt, die Freiheit, sich auszudrücken. Das ist in der Zeit vor der Französischen Revolution ein wichtiges Thema.
Weitere Kernthemen sind dementsprechend Mitleid, sittliches Verhalten, das Bewusstsein der eigenen Innerlichkeit, das Privatleben und die Schwärmerei für Mensch und Natur.
Typische literarische Genres der Empfindsamkeit sind Gedichte, Briefromane, Epen und bürgerliche Rührstücke.
Die Empfindsamkeit hat außerdem ihre ganz eigenen formalen Merkmale. In der Personenrede und in der Lyrik sind Ausrufe wie "Oh!" und "Ach!" sehr typisch.
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